In Stuttgart 2015 begann es mit den Aufführungen und wird weitergeführt, sogar mit geplanten Aufführungen in deutschen Gemeinden mehrerer skandinavischer Länder: das Brass-Oratorium „Anne! Damit wir klug werden“, komponiert von Reinhard Gramm, Landesposaunenwart der Hannoverschen Landeskirche, mit Texten seiner Frau Marita Gramm, freier Autorin. Dieses musikalisch wie sprachlich besondere Oratorium über eines der prominentesten Opfer des NS-Regimes ist bereits das siebte Werk der beiden. Neben den beteiligten Chören und den Musikern gibt es zwei Sprecherinnen; sehr bemerkenswert: die jüngere der beiden ist eine 15jährige Gymnasiastin aus Wischhafen im Landkreis Stade.
In Stuttgart, Osten und Hameln im Vorjahr, seit Januar 2016 in Meschede, Kiel, Eckernförde und Hamburg mit geplanten Auftritten in Paderborn und Rietberg (im dortigen „Bibeldorf“) – die Mitwirkenden waren viel unterwegs und werden es weiterhin sein. Sogar im Ausland sollen 2017 Auftritte stattfinden: aus deutschen Gemeinden u.a. in Stockholm, Malmö, Göteborg, Helsinki und Amsterdam liegen Einladungen vor.
Aber der Auftritt am 12. Juni 2016, dem Geburtstag Anne Franks, war zweifellos für alle eine besondere Erfahrung: auf dem Gelände des ehemaligen KZs Bergen-Belsen, dem Ort unzähliger Nazi-Opfer, dem Ort des Todes von Anne Frank und ihrer Schwester Margot wurde „Anne! Damit wir klug werden“ vor mehr als 100 Menschen aufgeführt und hinterließ nachhaltigen Eindruck. Nicht alle Besuchenden waren nach den 90 Minuten Aufführung in der Lage, Applaus zu spenden. Vielen war offensichtlich mehr nach Schweigen und nach stillem Rückzug zumute. Fast alle kamen noch mit zur Grabstätte der beiden Schwestern, um dort Steine mit der Aufschrift „Anne“ abzulegen. Es war eine eigenartige Atmosphäre dort.
Anne Frank schreibt mehrfach in ihrem Tagebuch, das eine der wichtigsten Quellen für das Oratorium ist, ihr größter Wunsch sei es, „ein ganz normaler Backfisch“ zu sein, ein Mädchen in der Pubertät, getrieben vom Wunsch nach Liebe, nach Entdeckung der Welt. Dieser Wunsch blieb unerfüllt. Anne und ihre Angehörigen hatten dabei noch Glück, dass sie einige Jahre durch das Versteck in einem Hinterhaus in Amsterdam den mörderischen Häschern entkamen, bis sie verraten und deportiert wurden. Wer das Anne-Frank-Haus in Amsterdam einmal besichtigt hat, wird es sehr nachdenklich verlassen. Die Sentenzen im Tagebuch über diese Jahre im Versteck, mehrfach im Oratorium zitiert, machen deutlich: es war fast unerträglich in diesem Hinterhaus, Zeit voller Entbehrungen, fast ohne Lachen und Fröhlichkeit – aber doch noch Zeit in der Freiheit, verglichen mit dem, was danach kam.
Dramaturgisch besonders beeindruckend ist im Oratorium die Einbeziehung des Publikums bald nach der Ouvertüre: Darsteller laufen durch die Reihen mit den Worten „Versteckt euch! Taucht unter! Ihr seid hier nicht mehr sicher! Weg, nur weg! Haut ab!“ Dazu passend der Nachtrag im Tagebuch vom 28. September 1942: „Es beklemmt mich doch mehr, als ich sagen kann, dass wir niemals mehr hinaus dürfen, und ich habe große Angst, dass wir entdeckt und dann erschossen werden.“ Diese Angst war in vielfacher Hinsicht begründet: nicht nur die allgegenwärtigen Kontrollen und Überprüfungen förderten sie, sondern auch die Tatsache, dass für die Denunziation von Juden ein Kopfgeld gezahlt wurde. „Es ist wie bei der Sklavenjagd von früher“, schreibt Anne Frank im November 1942.
Anne Frank zeigte auf, wie sehr die Unmenschlichkeit diese Zeit regierte, mit unvorstellbaren Gräueltaten. Im Juli 1942 vermerkt sie im Tagebuch, dass in Kroatien drei KZs für Kinder errichtet worden sind. (Übrigens von der faschistischen Ustascha-Bewegung, die mit Hitler-Deutschland verbündet war.)
Sie selbst fühlte sich, wie sie am 29. Oktober 1943 schreibt, „wie ein Singvogel, dem die Flügel mit harter Hand ausgerissen worden sind und der in vollkommener Dunkelheit gegen die Stäbe seines engen Käfigs fliegt.“ Unmittelbar vor dem Jahrestag der Pogromnacht, am 8. November 1943, schreibt das junge Mädchen mit Blick auf die Enge im Hinterhaus und die permanente Angst vor Entdeckung mit allen Konsequenzen: „Ich fühle mich in einem Kerker.“ So sehr Anne Frank um ihr Glück wusste, sich noch nicht in einem Gefängnis oder in einem KZ zu befinden, so belastend war auch in Amsterdam doch die Situation für sie und ihre Angehörigen. Im Oratorium wird das u.a. durch eine gesungene Fassung des 69. Psalms („Gott hilf mir! Denn das Wasser geht mir bis an die Kehle. Ich versinke in tiefem Schlamm, wo kein Grund ist; ich bin in tiefe Wasser geraten, und die Flut will mich ersäufen“) und durch die zum Kirchenlied umgedichtete Klage von Psalm 12 („Klage über die Macht des Bösen“) mit den Worten „wie wenig sind der Heilgen dein, verlassen sind wir Armen“ aufgenommen. Ein musikalischer wie inhaltlicher Kontrast ist das Lied „Stille Nacht“, gesungen zu den bewegenden Berichten vom Weihnachtsfest im Versteck, bei dem es liebevoll gestaltete Geschenke der Bedrohten füreinander gab, die freilich aus heutiger (Konsum-)Sicht absolut unerheblich scheinen, aber de facto ein unglaubliches Zeichen von Liebe und Phantasie waren.
Musikalisch endet das Oratorium mit der „Klage eines Vaters“, deren Schlusszeilen lauten: „So lange her, so still, so endlich aufgegeben, hören wir noch schwach dein Wort: ‚Ich sehn mich so.‘“ Dass nach dieser Aufführung die Zuhörenden wieder zu Anne Franks Tagebuch greifen, ist zu wünschen – nicht zuletzt aufgrund der Eintragung vom 23. Februar 1944: „Solange du furchtlos den Himmel anschauen kannst, so lange weißt du, dass du rein von innen bist und dass du doch wieder glücklich werden kannst.“
Pastor Ulrich Tietze